Martin Steiner

Sammlung von Gedichten über das Calancatal

Den Wolken die Scheitel ziehen

Im Calancatal

1
Rossa. Die Farbe des Steins, auf dem
die Kirche steht, hat den Ort getauft.
bernhard, ihr Patron, fühlt sich betrogen.

2
Der Sommer bekommt ihr schlecht,
der Calancasca. Die Steine im Flussbett
sehnen sich nach Liebkosungen.

3
Sommergewürztes Heu flutet den Tag:
Poesie, die den Dichter ehrt,
der sich in einem Mäher versteckt.

4
Überm Tal ankern die Sterne
und der Wasserfall, ohne Aufhebens,
giesst die Blumen der Träumer.

Jericho oder Santa Maria

Kaum zu glauben, haben
doch die Priester, von denen
der Prophet Josua spricht,
die mit den Posaunen,
den Weg ins Calancatal gefunden.
Doch damit nicht genug.
Ohne Aufsehen haben sie
sich integriert und sind
als Posaunen-Engel an der Kanzel
goldig sesshaft geworden.
Und glaubt mir, die blasen
noch wie zu biblischen Zeiten.
Wie sonst hätten sie die
Wolkenwände zum Einsturz
gebracht, damit wir eine Ahnung
haben von der Ewigkeit,
die über den Bergzinnen blaut.

Valdort

Kniehohe Halme in Gruppen. Oh heilige Einfalt
auf Wurzelfüssen. Jetzt, da die Gräser mich sehen,
bleiben sie auf dem Kirchhof vor der Holztür stehen,
grün von ihr belehrt, dass es Gott gefälliger ist,
frei unter freiem Himmel zu beten.

Am Wasser

Auf einem Stein sitzen
zwischen Steinen,
die im Wasser Rast machen.

Im Selbstgespräch
der Calancasca
verliert sich die Zeit.

Meine Ohren zählen
das Schnalen der Frische.

Martin Steiner · Den Wolken die Scheitel ziehen,  2021